
Der, der diese Zeilen der Erinnerung schreibt, war damals 18 Jahre alt.
Der Kanzler schritt langsam mit dem Kranz der Bundesregierung zum Ghettodenkmal, dem Denkmal das inmitten jener – das in jenem Stadtteil gebaut ist, der 1943 beim Aufstand jener Juden, die sich nicht wehrlos nach Auschwitz transportieren lassen wollten, niedergewalzt worden ist. Als der Kanzler dann vor dem Denkmal stand, fiel er, ja man muss es wirklich so sagen, fiel er plötzlich auf die Knie. Niemand konnte sich diesem Augenblick entziehen. Auch der Nüchternste war gebannt von diesem Augenblick. So beschrieb der Spiegel-Reporter Hermann Schreiber die Szene.
Auch ich war gebannt von diesem Bild. Es war am nächsten Tag in vielen Zeitungen. Ein deutscher Bundeskanzler sinkt in einer stillen Geste der Demut auf die Knie und bittet um Vergebung. Das hatte es bis dahin nicht gegeben.
Meine Großmutter war das, was man heute eine toughe Frau nennen würde. Sie las morgens immer als erste die Zeitung. Sie sah lange auf das Bild – und sie hatte Tränen in den Augen. "Das ist ein Mann", murmelte sie. "Das ist ein großer Mann."
Noch einmal Hermann Schreiber: "Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann kniet er da nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für all die, die es nötig haben, aber nicht da knien."
Nicht alle waren daheim damals dieser Meinung. Knien darf man nur vor Gott, schrieb die Springer Presse. Brandt erhielt sogar Morddrohungen.
Heute ist dieses Bild in allen Geschichtsbüchern. Zu recht. Denn dieses Bild ist wahrlich eine Ikone des 20. Jahrhunderts. Mit dieser großen Geste hatte Willy Brandt nicht nur die ganze Welt gerührt, meiner Großmutter die Tränen in die Augen getrieben, er bewirkte an diesem trüben Dezembertag noch etwas: Der Autor dieser Zeilen wurde Mitglied der SPD.