Oh Gott, jetzt kommt wieder diese Medienschelte … Bewahre nein. Doch Kritisches wird wohl erlaubt sein. Auch gegen die vielbeschworene vierte Macht im Staate. Richtungswahl, ja sogar Schicksalswahl sind die Schlagworte mit denen der aktuelle Bundestagswahlkampf beschrieben wird. Schicksalswahl halte ich persönlich für arg reißerisch, gleichwohl: Es geht um was.
Wahlkampf findet im Fernsehen statt, doch eben nicht nur dort. Auch hier in Mülheim: auf der Straße, im Saal der Eckkneipe. Da stehen durchaus angesehene Politiker Rede und Antwort. Die Bürger fragen, geben zu bedenken, kritisieren, lassen Frust ab, loben auch, heißen gut. Hier in der Provinz, auf der kleinen Bühne, sind die Veranstaltungen nicht tv-gerecht durchgestylt, waren die Protagonisten nicht vor ihrem Auftritt in den Händen der Visagisten. Hier ist Leben live, sieht man die Schwitzflecken, versagt das Deo und manchmal auch die Technik. Das ist alles verdammt echt, authentisch und unmittelbar, Face to Face, wie es gut Neuhochdeutsch heißt, also auf gleicher Augenhöhe. Auch die Sendezeit ist nicht begrenzt, Werbeunterbrechungen gibt´s auch nicht, jeder kommt zu Wort. Auch Journalisten übrigens.
Hört sich doch klasse an, sagen Sie. Finde ich auch. Nichts sei spannender als die Wirklichkeit, hat einmal der große Egon Erwin Kisch gesagt. Das hier ist pralle Wirklichkeit, dazu unberechenbare. Wer was wie sagt, steht auf keinem Regieplan. Hier wird "Wirk-lichkeit" geboten, keine stereotypen Glanzabziehbilder. Sollte doch den einen oder anderen Bericht in der lokalen Tagespresse wert sein. Sie lesen keinen? Richtig, ich auch nicht.
Was als ein Strom nützlicher Informationen begann, hat sich inzwischen in eine Sturzflut verwandelt. Neil Postmann, der große amerikanische Medienkritiker, hat das einmal gesagt. Er meinte, dass wir am informationellen Overkill ersticken. Wie heißt das Gegenteil von Sturzflut oder Overkill? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall findet es statt, indem Bericht eben nicht stattfindet. Zumindest hier in der Provinz.
Da war z.B. der bekannte Plakatkünstler Klaus Staeck in Mülheim. Er kam noch nicht einmal als Ankündigung vor. Berichterstattung wurde von einem Redakteur der zweitgrößten Tageszeitung in Mülheim abgelehnt mit der Begründung, er, Staeck, habe ja wohl viel von seiner Strahlkraft verloren. Sorry, aber das muss jetzt raus: Selten eine so dämliche und auch unjournalistische Ausrede gehört. Man hätte doch die Gelegenheit gehabt, eben diese Hypothese gleichsam live zu verifizieren. Man hätte dann einen Verriss schreiben können, belegt durch eigene Erfahrung. Wie kann man etwas behaupten, kategorisch, sozusagen im Besitz der Wahrheit in letzter Instanz, ohne diese Behauptung an der Wirklichkeit zu messen? Jetzt ist die Chance dahin. Warum scheut der kritische Geist die Konfrontation mit der Realität?
Politiker, vor allem, wenn sie im Bundestag sitzen, also verdammt weit weg nach Berlin sind´s knapp 600 Kilometer, werden oft gefragt, was sie denn für ihre Stadt, ihren Wahlkreis tun, getan haben. An den Taten sollt ihr sie messen. Richtig. Doch wenn da Taten sind, durchaus positive, wohl auch berichtenswerte, fallen sie einer Schere im Kopf zum Opfer, die automatisch und, sagen wir es ruhig: präreflexiv, alles rausschneidet, was irgendwie in den Ruch der Unausgewogenheit, der vermeintlichen Hofberichterstattung kommen könnte. Aus lauter Objektivitätsfuror findet dann Wirklichkeit als Bericht gar nicht mehr statt. Klartext: Anton Schaaf, SPD-Bundestagsabgeordneter, hat (mit anderen) dafür gesorgt, dass es ersten die Mittel, die das CBE und die Hauptschule an der Bruchstraße jetzt bekommen, überhaupt im Bundeshaushalt bereit gestellt wurden. Und zweitens hat er auch (wieder mit anderen) sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass aus dem Topf 300.000 nach Mülheim in zwei Modellprojekte fließen. Kein Wort darüber. Ja verdammt noch mal, war das Geld von Lichtensteiner Schwarzkonten, brachte Anton Schaaf es in einem Koffer? Nein, es lief alles seinen rechten Gang. Nur ohne ihn, gäb´s das Geld nicht in Mülheim. War das Motiv Eitelkeit, Ruhmsucht, wollte er sich nur sonnen in der eigenen Leistung? Mitnichten. Leistung muss sich wieder lohnen, heißt es . Und Lohn besteht unter anderem auch darin, in der Zeitung zumindest in einem Nebensatz erwähnt zu werden. Jeder 50EuroSchein im JolantheSchwein wird locker zur Frontpagestory, 300.000 werden behandelt wie Schwarzgeld. Übrigens: Nichts gegen Jolanthe. Gäbe es das Schwein nicht, man müsste es erfinden. Noch was: Hätte Anton Schaaf auch nur 100 von einem dubiosen Konto geholt, er hätte es auf die Frontpage geschafft. Bad News are good News. Nur ein blöder Spruch?
Soweit. Ich will´s nicht weiter treiben. Der Tenor ist wohl klar geworden. Der drückt sich aus in den Worten, die ich schon so oft aus Journalistenmunden gehört habe: Das ist doch nur Wahlkampf. Als ob Wahlkampf, dieser Wettstreit um die Wähler, dieser demokratische Kampf um Wählerstimmen etwas abgrundtief Unmoralisches sei und verzichtbar. Es sind dieselben Journalisten, denen die kritische Bemerkung, der Wahlkampf dümpele dahin, "habe noch keine rechte Fahrt aufgenommen", locker aus der Feder fließen, diese Sentenzen aus dem rhetorischen Second-Hand-Shop. Ich fürchte, man glaubt wirklich, was man da sagt und schreibt. Übrigens: Eine der wichtigsten Fragen bei Pressegesprächen vor der Wahl ist stets: Was kostet der Wahlkampf? Ist das wirklich eine News?
Ist schon einmal aufgefallen, dass Zeitungen das Schreiben, was sich verkauft? Wenn die Unterstellung, dass Politiker alles nur machen, um besonders gut dazustehen,stimmt, wo ist der prinzipielle Unterschied, dass nur das geschrieben wird, was Auflage macht. Auf so eine grundsätzliche und aufklärerisch-selbstkritische Parallelität kommt man, wenn man sich eine der drei Grundfragen der Philosophie stellt: Was heißt das im Prinzip? Dann ist man oftmals sehr schnell beim biblischen Bild des leicht übersehenen Balkens im eigenen Auge. Und wir wieder bei der Philosophie mit der dieser Kommentar begann. Um noch ein mal den alten Hegel zu bemühen: Der Eindruck von realistischem Morgensegen stellt sich mir bei meiner allmorgendlichen Zeitungslektüre schon lange nicht mehr ein. Schade eigentlich.