Münteferings „Kapitalismuskritik“ und die ideologische Aufgeregtheit

Frank Esser
Frank Esser, SPD-Vorsitzender Mülheim an der Ruhr

„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Artikel 14, Absatz 2 Grundgesetz, abgekürzt GG)

Manchmal sollte man bei aller ideologischen Aufgeregtheit – in Wahlkämpfen ist sie naturgemäß besonders ausgeprägt – sich der Wertebasis unserer Gesellschaft vergewissern. Die Mütter und Väter des GG wollten bewusst diese Doppelbindung, die in Artikel 14 GG zum Ausdruck kommt. Die Sozialbindung des Eigentums ist kein Spagat, sondern die ebenso schlichte wie eindeutige Verpflichtung, bei allem wirtschaftlichen Handeln das Ganze, das Gemeinwohl, stets im Blick zu behalten.

Im gültigen Grundsatzprogramm der SPD steht deshalb der aus dem GG abgeleitete Satz:
„ Wirtschaften hat dem Gemeinwohl zu dienen.“ Das ist nicht mehr als eine andere Formulierung für Artikel 14 Absatz 2 GG.

Die Gemeinwohlverpflichtung wirtschaftlich-unternehmerischen Handelns ist demnach kein „alter Zopf“, der abgeschnitten gehört, kein Wert, der auf dem Altar der Shareholder-Value-Orientierung geopfert werden dürfte. Denn im GG findet sich die Sozialpflichtigkeit des Eigentums unter den Grundrechten.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundrechte im Abschnitt I unserer Verfassung als „objektive Wertordnung“ bestimmt. Diese Artikel sind durch keine Mehrheit jemals änderbar, geschweige denn zu streichen oder außer Kraft zu setzen. Selbst eine Volksabstimmung könnte diese Artikel nicht verändern.

Es gibt aktuell Aufregung im Lande. Franz Müntefering hat eine Grundsatzrede gehalten. Der Termin des Forums, anlässlich dessen er die Rede hielt, stand lange fest. Der SPD-Vorsitzende sagte wörtlich:

Wir wissen, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Politik einerseits und den ungehemmten Regeln des Marktes andererseits gibt. Diese Spannung gilt es auszuhalten und produktiv zu nutzen.
Deshalb wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur.
Im Denken und Handeln der Ökonomie ist der Primat der Ökonomie selbstverständlich, scheint staatliches Handeln oft unnötig bis kontraproduktiv.
Ökonomie zielt – bestenfalls – indirekt auf das Sozialwesen Mensch, sie kalkuliert
die Menschen zwar ein, aber nur in Funktionen: als Größe in der Produktion, als
Verbraucher oder als Ware am Arbeitsmarkt.

Weil es das Spannungsverhältnis zwischen Marktgesetzen und Gemeinwohl gibt, formuliert das GG in Artikel 14 die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Unser Gesellschaftskonsens, der das gesamte Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland trägt, ruht darauf, dass die sogenannte „Privatnützigkeit“ des Eigentums nicht allein herrschen möge. Wer dieser „Alleinherrschaft“ das Wort redet, steht nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes.

Und dass marktwirtschaftliche Ökonomie lediglich indirekt auf das Sozialwesen Mensch zielt, wussten schon die Theorieväter des Kapitalismus. Adam Smith´ Kapitalismusutopie im 18. Jahrhundert beschreibt diesen indirekten Zusammenhang sehr deutlich. Der sich frei entfaltende Konkurrenzegoismus des Marktes, bei dem es allein um das freie Spiel von Angebot und Nachfrage geht, erzeugt, so Smith, eben durch die Freisetzung des subjektiven Gewinnstrebens indirekt den Wohlstand der Nationen. Der „Charme“ – und auch der Erfolg – des marktwirtschaftlichen Kapitalismus liegt gerade in diesem „Umwegeffekt“.

Smith und allen anderen Theoretikern des Kapitalismus war sonnenklar, dass der Markt sozial völlig blind ist. Deshalb spielt bei allen der Staat eine wesentliche sozial regelnde Rolle. Er hat dafür zu sorgen, dass sich erstens der freie Markt nicht zu einem Kampf aller gegen alle auswächst und zweitens, dass keiner wirklich unter die Räder kommt. So war es z.B. besagter Adam Smith, der als einer der ersten die Schulpflicht für alle forderte. Auf ihn geht auch die Forderung nach dem staatliche Sektor zurück, den wir heute als Daseinsvorsorge verstehen.

Das ist ein alter Hut, 250 Jahre alt? Das ist soziale Romantik, angesichts globalisierter Märkte als unnötiger Ballast über Bord zu werfen? Nein, das ist nicht altbacken. Schon gar nicht verzichtbar. Das ist hochmodern. Nicht nur das. Es gehört zu den Grundlagen unserer Gesellschaft und steht so in unserer Verfassung. Es kann nicht angehen, dass einige allen Ernstes bereit sind, die Grundlagen unserer Verfassung zur Disposition zu stellen, weil von eben diesen Grundlagen vermeintliche Abschreckungseffekte für internationale Investoren ausgehen.

Franz Müntefering hat nichts weiter als die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland interpretiert. Wer das als „Rückfall vor Godesberg“ geißelt oder gar als Klassenkampf diffamiert, dem sei eine Lektüre unseres Grundgesetzes dringend empfohlen. Die marktliberalen Kritiker Münteferings haben über dies immer noch nicht zur Kenntnis genommen, dass die marktliberale reine Lehre des Shareholder Value sich allmählich zu einer Legitimationskrise unserer Wirtschaftsordnung entwickelt.Und von dieser unleugbaren Legitimationskrise geht, da hat der SPD-Vorsitzende recht, eine Gefahr für unser demokratisches Gemeinwesen aus.

Das gegebene Versprechen der sozialen Marktwirtschaft lautet: Alle haben Teil am Reichtum unserer Gesellschaft. Und: Keiner bleibt auf der Strecke.

Wenn dieses Versprechen tagtäglich widerlegt wird – der Blick in die Tageszeitung reicht dafür – macht sich Unbehagen breit. Es ist mehr als lediglich eine negative Stimmung. Da wird die Regelungsfähigkeit des Staates, die soziale Kompetenz der Parteiendemokratie, die unser politisches System trägt, insgesamt in Frage gestellt. Auf diese Gefahr hinzuweisen hat nichts mit klassenkämpferischem Verbalradikalismus zu tun. Es ist im Gegenteil der tiefen Sorge um unsere Demokratie geschuldet. Insofern kam Münteferings Rede gerade zur rechten Zeit.